Matthias Wendt, Düsseldorf
Referat, gehalten am „Tag der mitteldeutschen Barockmusik 2001 in Zwickau“.
„Ach, Händel machen Sie auch?“ war die erstaunte, aber durchaus berechtigte Reaktion, als ich mein Thema zum „Tag der mitteldeutschen Barockmusik 2001 in Zwickau“ anmeldete. Betrachtet man nur die rein äußerlichen Fakten, so scheint das Thema Händel–Schumann in der Tat abwegig. Beispielsweise stehen den neun Nennungen Bachs im Register zum ersten Band der Schumannschen Tagebücher[1], gerade mal zwei zum Namen Händel gegenüber. Unter „Bach“ nun findet man im Tagebuch so kernige Sätze wie „Johann Sebastian Bach hat Alles ganz gemacht – er war ein Mann durch u. durch“[2], bei Händel reicht es noch nicht einmal zur Nennung der Vornamen, statt dessen steht da beispielsweise schlicht[3]: „Aber eine Händelsche Arie bleibt trotz dem Etwas Langweiliges […]“.
Die Literaturrecherche nimmt sich ähnlich einseitig und für den Händelfreund deprimierend aus. Schon einer der Urväter der Rezeptionsforschung, Richard Hohenemser, beschäftigt sich in seinem, übrigens sehr lesenswerten Beitrag Robert Schumann unter dem Einfluß der Alten im 1906er Schumann-Heft der Zeitung Die Musik[4]ausschließlich mit Spuren Bachs im Werk Schumanns, die anderen „Alten“ bleiben außen vor. Auch Georg von Dadelsens ungedruckte Dissertation Alter Stil und alte Techniken in der Musik des 19. Jahrhunderts, Berlin 1951, meint mit „Alt“ eigentlich Bach und nicht Händel, zumindest konnte ich den Namen Händel im Schumann-Kapitel der Arbeit[5] nirgends finden. Da verwundert denn auch nicht, daß Dadelsen nur wenige Jahre später einen vertiefenden Aufsatz zum gleichen Thema publizierte, hier allerdings namhaft gemacht: Robert Schumann und die Musik Bachs[6]. Den Höhepunkt und vermutlich auf viele Jahre hinaus auch den Abschluß der einseitigen Zweiseitigkeit Schumann–Bach stellt Bodo Bischoffs umfassender Artikel Das Bach-Bild Robert Schumanns im Sammelband „Bach und die Nachwelt“[7] von 1997 dar.
Gemessen an der Flut von Aufsätzen und Büchern zum Thema Schumann wären diese wenigen Titel eigentlich zu vernachlässigen, wenn es irgendein Äquivalent gäbe. Aber mitnichten, zum Thema Händelrezeption bei Schumann fand ich überhaupt nur zwei ziemlich kurze Artikel, von denen der eine, Günther Massenkeils VergleichBach–Händel. Zur Geschichte eines Doppelbildes im Schrifttum über Musik des 18. bis 20. Jahrhunderts[8], zu dem apodiktischen Schluß kommt: „Bei Robert Schumann, in seinen Schriften und in seinen Rezensionen, findet sich keine Spur eines Vergleichs von Bach und Händel. […] Ein eigenes Händel-Bild […] macht sich Schumann nicht.“[9] Der zweite Beitrag zum Händel-Bild Schumanns ist deutlich ergiebiger, krankt aber an der unnachahmlichen Stilistik und Kurzatmigkeit des Verfassers, Wolfgang Boetticher. Sein Aufsatz Das Fortleben Händels in der Geisteswelt Robert Schumanns[10] ist einerseits eine Fundgrube an Zitaten, andererseits aber auch nicht allzuweit über das Stadium des Zettelkastens und der vom Thema wegführenden Nebenbemerkungen hinaus gekommen. Immerhin aber differenziert er zwischen den Aussagen des jungen Schumanns und denen des mittleren bzw. späten. Womit wir auch zum Ausgangspunkt der Literaturschau zurückgekommen wären, denn die von mir ausgewählte Gegenüberstellung der Schumann-Zitate zu Bach versus Händel aus Tagebuch I war natürlich beabsichtigt. In der Tat spielt Händel (und zunächst auch Bach) für den jungen Schumann überhaupt keine Rolle. In den diversen Jugenderinnerungen Schumanns taucht Händels Name nirgends auf. Was nicht verwundern muß, denn Händel kam im musikalischen Umfeld des jungen Schumanns, im Musikleben Zwickaus schlicht nicht vor. Seine musikalische Sozialisation war geprägt von Kammermusikabenden, Schulkonzerten, gelegentlichen Opernaufführungen und vermutlich potpourriartig zusammengesetzten Freiluftkonzerten der Zwickauer Stadtmusiker. Großbesetzte Kirchenmusik war, wenn sie denn überhaupt einmal angesetzt war, dem moderneren Repertoire etwa ab Haydn vorbehalten und auf die Mitwirkung der Militärmusiker angewiesen, d. h. nur selten zu hören. Dementsprechend kannte der junge Schumann relativ viele Opern und Opernbruchstücke aus der jüngeren Vergangenheit („Rossini im Flor“ heißt es in einer seiner Jugenderinnerungen, „und mein Urteil darüber“[11]), Kammermusik und solistische Klaviermusik. Das jedoch, was gemeiniglich im 19. Jahrhundert mit dem Namen Händel in Verbindung gebracht wurde, die Renaissance des Oratorienwerks, fand in Zwickau zur Schumannzeit nicht statt. In allen von mir in anderem Zusammenhang[12] durchgesehenen Quellen zur Musikgeschichte Zwickaus der Jahre 1820–1830 taucht der Name Händel an keiner Stelle auf. Gleiches trifft allerdings auch auf Bach[13] zu, von dem Schumann allenfalls im Jahr 1827 die „Goldberg-Variationen“ BWV 988 in die Hände fielen[14], völlig ohne bleibenden Eindruck, und dies anscheinend lebenslang. Erst in einem späteren Rückblick auf das erste an der Universität Leipzig verbrachte Jahr rekapituliert Schumann „Von Bach dämmerte es“[15]. Die eigentliche Götterdämmerung bricht aber anscheinend erst im Frühjahr 1832, nach Abbruch seiner Kompositionsstudien bei Heinrich Dorn, an. Denn ab diesem Zeitpunkt bildet sich Schumann im Selbststudium und hierzu gehörten intensive, in seinen Studienbüchern überlieferte Analysen aus dem ersten Teil des Wohltemperierten Klaviers[16]. Vermutlich zeitgleich schaffte sich Schumann ein Exemplar der 1831 von C. F. Becker herausgegebenen 371 vierstimmigen Choralgesänge Bachs an. Sein Handexemplar dieser Choralsammlung ist heute verschollen, allerdings kann man einem Auktionskatalog von 1930[17] einige aufschlußreiche Details zu Schumanns Lese- und Arbeitsspuren entnehmen. Hiernach steht auf dem Vorsatzblatt des Bandes von Clara Schumanns Hand: Aus diesem Büchlein hat Robert Schumann täglich gespielt. Bereits bis 1842 muß er die Choräle mindestens zweimal gründlich durchgearbeitet haben, denn neben zahlreichen Bemerkungen und Korrekturen notiert er auf der letzten Seite: Revidirt aufs Neue im September 1842.
Diese beiden von Schumann studierten Werke Bachs entsprechen exakt dem sanktionierten Kanon fast aller Komponisten und Kompositionsstudenten des 19. Jahrhunderts: DasWohltemperierte Klavier zum Kontrapunktstudium (die Kunst der Fuge hatte seltsamerweise bei weitem nicht diese Verbreitung gefunden), die vierstimmigen Choräle als Muster des reinen Satzes.
Von Händel kannte Schumann zu diesem Zeitpunkt allenfalls eine in seiner 1830 angeschafften Hummelschen Klavierschule abgedruckte e-Moll-Fuge[18] sowie das Oratorium Samson, das am 25. Februar und 4. März 1830 im Thibautschen Singverein in Heidelberg unter Teilnahme (aber wohl kaum Mitwirkung) Schumanns aufgeführt wurde[19]. Zwar bewegte ihn diese Aufführung zum oben wiedergegebenen Statement über die Langweiligkeit Händelscher Arien, aber auch zu einem enthusiastischen Brief an die Mutter (Heidelberg, 24. Februar 1830), bei dem immerhin Händel Aufhänger zur Charakterisierung Thibauts und seiner eigenen Rolle im Heidelberger Musikleben wird[20]: „Thibaut ist ein herrlicher, göttlicher Mensch; bei dem ich meine genußreichsten Stunden verlebe. Wenn er so ein Händel’sches Oratorium bei sich singen läßt (jeden Donnerstag sind über 70 Sänger da) und so begeistert am Klavier accompagnirt und dann am Ende zwei große Thränen aus den schönen, großen Augen rollen, über denen ein schönes, silberweißes Haar steht, und dann so entzückt und heiter zu mir kommt und die Hand drückt und kein Wort spricht vor lauter Herz und Empfindung, so weiß ich oft nicht, wie ich Lump zu der Ehre komme, in einem solchen heiligen Hause zu sein und zu hören.“ Schumann ist offenbar von zwei Dingen beeindruckt, von der Anziehungskraft, die Thibaut durch sein Charisma auf die Teilnehmer seiner Singeübungen ausübt, und von der Tatsache, daß sich überhaupt regelmäßig solche für Heidelberg gewaltige Menschenmengen zum gemeinsamen Singen einfinden. Als Dirigent und Musikschriftsteller kann er Thibaut jedoch nicht vorbehaltlos akzeptieren, wie seine Tagebuchnotizen zur gleichen Aufführung belegen[21]: „Der erste Theil des Samson von Händel ward frisch u. keck aber ohne Präcision aufgeführt. Thib.[aut] vergleicht mit Unrecht Händel mit Shakespeare. Händel steht zwischen Klopstock u. Shakespeare. Händel ist Götz von Berlichingen, er tanzt nicht, meint Thibaut; ebendeshalb ist er Shakespeare unähnlich, der immer tanzt u. die Welt durch andre Gläser ansah, als Händel mit seiner einseitigenGröße. Mir dünkt, es giebt ein[en] Unterschied zwischen universellen u. idealen Künstlern – Raphael ist idealer als Buonarotti, Buonarotti universeller; meine Parallelen sind
Shakespeare | |
Mozart | als Universalgenies |
M.[ichel] Angelo | |
Schiller (Klopstock) | |
Händel | als Idealmenschen |
Raphael |
[…]
Wenn Thib.[aut] seiner ‚Reinheit der Tonkunst’ od. jedem Exemplar dieses Buches seine eigene Person u. seinen Musikverein anheften könnte, so wäre dein Untergang unvermeidlich, Czerny u. auch Du Rossini!
Aber eine Händelsche Arie bleibt trotz dem Etwas Langweiliges […].“
Verblüffend ist dabei zum einen, daß Schumanns hier ausformulierte kleine Genietheorie sich an der Kenntnis nur eines einzigen Händelschen Werkes, des Samson, orientiert. Noch verblüffender aber ist der Schluß der Tagebuchnotiz, wo Schumann ganz offen zugesteht, daß dieses sein Händel-Bild unmittelbar mit dem Charisma Thibauts verknüpft ist. Schumann stellt Händel nicht um seiner selbst Willen Mozart gegenüber, sondern er handelt ausschließlich im Reflex auf Thesen Thibauts und dessen Händel-Verehrung. Ein eigenes Händel-Bild hat Schumann noch nicht und kann es, bei seiner rudimentären Repertoirekenntnis, auch gar nicht haben.
Eigentlich ist auch ganz unerfindlich, wie Schumann – zumindest bis zu seiner Übersiedelung nach Dresden, 1844 – je zu einem solchen gelangen soll, denn offenbar fand auch in Leipzig eine musik-praktische Händelrezeption kaum statt. In den akribisch von Gerd Nauhaus eruierten Programmen der in Schumanns Tagebüchern erwähnten Konzertbesuche finden sich zwar ab und an Kompositionen Händels, aber in den meisten Fällen handelt es sich bei den aufgeführten Stücken ausschließlich um einzelne Chöre und Arien. Nur zweimal werden laut Tagebuch komplette Werke Händels im Beisein Schumanns aufgeführt, am 15. Februar 1838 eine nicht näher spezifizierte Hymne und zur Gutenbergfeier am 24. Juni 1840 das Dettinger Te deum[22]. Am 18. April 1843 schließlich hört er in einem Konzert des Organisten Carl Kloß in der Thomaskirche eine nicht näher genannte Orgelfuge[23]. Keines dieser Werke vermag Schumann im Tagebuch irgendeinen Kommentar abzulocken. Anzumerken ist allerdings, daß nicht alle Konzertbesuche Schumanns auch im Tagebuch notiert sind, die Menge der erlebten Händelaufführungen also mit Sicherheit größer ist, als heute dokumentiert[24]. Nichtsdestoweniger entwickelt sich bei Schumann ein Händel-Bild, das nunmehr jedoch nicht mehr ausschließlich an Thibauts Lehrsätzen orientiert ist. Abzulesen ist es in zahlreichen Artikeln für die Neue Zeitschrift für Musik und an anderen Orten.
A: Vermutlich noch auf die Diskussionen mit Thibaut zurückzuführende Aussagen:
1834, im Artikel Chor des Damen-Conservationslexikons[25]:
„Händel verstand den Chor am kräftigsten zu behandeln.“
1835, über Etüden von Ferdinand Hiller[26]:
„Volle auf- und niedersteigende Dreiklangsmasse, in der Weise, wie Händel seine Chöre oft begleitet. Großartig, nur einige schwache Augenblicke.“
1840, über eine Oper von J. P. E. Hartmann[27]:
„Der Chor aber will nicht zu viel Kreuze und Bee; er singt sonst ungern und falsch obendrein; ebensowenig braucht es zum einfachen Liede so zahlreicher Übergänge, wie sie der Komponist oft anbringt ohne Wirkung. Was wirkt ein ausgehaltener Dreiklang oft, aus der Menschenbrust frei herausgesungen! Alle Kunst Spohrscher Enharmonik muß sich verstecken vor einem Händelschen ausströmenden Dreiklange.“
B: Gegen Thibauts Lehrsätze gerichtete bzw. völlig von ihm unabhängige Aussagen:
1835, im sogenannten dritten Schwärmbrief, An Chiara = Clara Schumann[28]:
„[…] Dabei belustigt mich am meisten der Florestan, der sich wahrhaftig dabei ennuyiert und nur aus Hartnäckigkeit gegen einige Händel- und andere –ianer, die so reden, als hätten sie den Samson selbst komponiert im Schlafrock, nicht geradezu einhaut in das Hesperidische.“
Ganz offenbar handelt es sich bei dieser Nebenbemerkung immer noch um eine verspätete Reaktion auf Thibauts erläuternde Kommentare und Aufführung des Samson in Heidelberg 1830.
Anscheinend werden Schumann allmählich neben Defiziten der Thibautschen Händelpflege auch Defizite seiner eigenen Repertoirekenntnis und damit des Leipziger Musiklebens – des Mittelpunkts seiner musikalischen Welt – bewußt, wie sonst wäre der unterschwellig angedeutete Neid auf England zu erklären, der sich in zwei Bemerkungen über William Sterndale Bennett und Clara Novello ausspricht:
Über Sterndale Bennett[29]:
„Mit Händel, an dem die Engländer nichts mehr verdrießt als sein deutscher Name, soll keine andere Nation so vertraut sein als die englische. Man hört ihn mit Andacht in den Kirchen, singt ihn mit Begeisterung bei den Gastmahlen: ja, Lipinski erzählte, er habe einen Postillion händelsche Arien blasen hören. […] Noch manches möcht’ ich mitteilen, […] wie er [Bennett] Händel auswendig weiß […].“
Über Clara Novello[30]:
„Worin sie nun in ihrem Element, in dem sie geboren und groß geworden ist, das war Händel, so daß sich die Leute verwundert fragten: „Ist das Händel? Kann Händel so schreiben? Ist das möglich?“ Von solcher Kunst des Vortrags kann selbst der Komponist lernen.“
Dieses Konzert der Novello muß Schumanns musikalisches Weltbild geradezu erdrutschartig ins Wanken gebracht haben, anders ist seine Ungläubigkeit, seine völlige Fassungslosigkeit über das Gehörte schlicht nicht zu erklären. Das war offensichtlich eine ganz andere Art, an Händels Musik heranzugehen, als die gutgemeinte Händelpflege Thibauts. Und der „Komponist“, der etwas dazugelernt hat, ist selbstverständlich Schumann selbst, auch wenn für ihn zu diesem Zeitpunkt (Winter 1837/38) die Komposition von Vokalmusik noch in ferner Zukunft liegt. Möglicherweise notiert er sich in diesem Zusammenhang in seinem sogenannten „Projektenbuch“[31] die Mahnung: „Händel auch noch zu studiren.“
Auffallend bei der Lektüre von Schumanns Gesammelten Schriften ist noch eine dritte Reihe von Aussagen, die nicht Händel alleine herausstellen, sondern jeweils einen Zusammenhang Bach–Händel herstellen, oft allerdings mit einer unterschwelligen, mitunter auch sehr deutlichen Bevorzugung Bachs.
Etwa 1832/33 (also noch auf Basis minimaler Repertoirekenntnis), aus dem „Denk- und Dichtbüchlein“[32]:
„Die Quellen werden im großen Umlauf der Zeit immer aneinander gerückt. Beethoven brauchte beispielweise nicht alles zu studieren, was Mozart –, Mozart nicht, was Händel,–, Händel nicht, was Palestrina–, weil sie schon die Vorgänger in sich aufgenommen hatten. Nur aus einem wäre von allen immer von neuem zu schöpfen – aus J. S. Bach! – Fl.[orestan]“
1835, über Romantik bei Ignaz Moscheles[33]:
„[..] Romantik des Altertums, wie sie uns kräftig in den gotischen Tempelwerken von Bach, Händel, Gluck anschaut.“
1841, über ein historisches Konzert mit Werken von Bach und Händel[34]:
„Den zweiten Teil des Konzerts füllte Händel. Wär’ es kein Verstoß gewesen, so hätten wir ihn vor Bach zu hören gewünscht. Nach ihm wirkt er minder tief.“ (Hervorhebungen vom Verf.)
Über Fugen:
1837, (Präludien und Fugen für das Pianoforte von Mendelssohn)[35]:
„Endlich, wie anders denken andere, ich z. B., der ich stundenlang schwelgen kann in Beethovenschen, in Bachschen und Händelschen [Fugen] und deshalb immer behaupte, man könne, wässerige, laue, elende und zusammengeflickte ausgenommen, keine mehr machen heutzutage, bis mich endlich diese Mendelssohnischenetwas wieder beschwichtigt.“ (Welche Händelsche Fugen Schumann hier gespielt hat oder haben will, ist völlig unklar; überliefert ist nichts, Tagebücher aus dieser Zeit fehlen, briefliche Erwähnungen Händelscher Fugen existieren nicht.)
dito 1837 (über Radziwills Faust)[36]:
„Wenn sich der Komponist der Aufgabe der Ouvertüre nicht gewachsen fühlte und die gewiß nicht zu verwerfende Idee, ein Faustdrama mit einer Fuge, der tiefsinnigsten Form der Musik, zu eröffnen, nicht auszuführen vermochte, so gab es doch gewiß noch andere, mehr Faustischen Charakters, als die von Mozart, die doch Niemand ein Meisterstück nennen kann, wenn man anders welche von Bach und Händel kennt.“
1838 (über Czerny, Die Schule des Fugenspiels)[37]:
„Ein Fugenwerk von Czerny ist ein Ereignis. […] Ich wenigstens würde meinen Schülern[38] […] sie ohne Gnade aus den Händen winden […] weil es neben Czernyschen auch noch andere gibt, Beethovensche, Händelsche, der Bachschen nicht zu gedenken.“
1837, J. A. Ladurner: Phantasie, Fuge und Sonate über ein Thema von Händel[39]:
„Daß man über ein Thema von Händel nicht so leicht faseln dürfe als über eines von Bellini, versteht sich. […] Sehe ich recht, so ist der Verfasser in Kenntnis des Vorhandenen nicht viel über Beethoven und vielleicht noch gar nicht bis zu ihm gedrungen. […] Wo man ihm aber nichts anhaben kann, und wo er so kräftig Händelsch arbeitet, daß sich das junge Volk respektvoll zurückziehen wird, ist in der Fuge, wenn ich auch für meinen Teil zu ihrer Länge mehr Aufbau und Steigerung wünschte.“ (Hervorhebung vom Verf.)
Daß Schumann hier mit geradezu traumwandlerischer Sicherheit der Kritik den entscheidenden Punkt nur aus den ihm vorliegenden Noten herausliest, zeigt Ladurners Reaktion. Joseph Alois Ladurner, Theologe, geb. 1769 und aus einem Nebenzweig der bekannten Musikerfamilie stammend, schickt Schumann auf die Rezension hin einen ausführlichen Brief, in dem er seine Beweggründe zur Komposition solcher Retro-Musik darstellt[40]. Die Argumentation ist sehr skurril, aber mit einem Umfang von sieben Seiten auch überaus lang, so daß der Brief hier nur auszugsweise zusammengefaßt werden kann. Ladurner verabscheut „moderne“ Pianofortes und spielt und komponiert ausschließlich am und für das Clavichord, womit die von Schumann monierte prä-beethovensche Klaviertechnik erklärt ist. Zum rezensierten Werk selbst erklärt Ladurner:
„Über die Entstehung und Beschaffenheit der recensirten Fantasie erlaube ich mir zu bemerken:
Anfangs versuchte ich, über das Thema meiner Lieblings Fuge von Haendel eine andere Fuge
nach meinen eigenen Idäen zu entwerfen.
Als die Fuge fertig war, fand ich das Thema auch zur Bearbeitung in der Form einer Sonate geeignet,
Zugl Zuletzt glaubte ich auch eine Einleitung beysetzen zu müssen dürfen, um ein homogenes Ganzes zu bilden.
Die Hauptabsicht war immer die Beybehaltung des gewählten durchaus gleichen Thema, und dessen schulgerecht abwechselnde Durchführung in mannigfaltigen, und doch zur Einheit gehörigen Formen.
Und so entstand diese – schon vor vielen Jahren entworfene und erst vor kurzen nach dem Wunsche mehrerer Musikfreunde ebenfalls zum Drucke beförderte Versuchsarbeit.
[…]
Zum Aufbau der Fuge sind 4 Motive gewählt, und so manigfaltig [sic!] und originell in einander verwebt, daß ich den Platz nicht finde, wo ein mehr gesteigerter anzubringen wäre. Das vor dem Schlusse – auf dem Orgelpunkte gewählte 4te Motiv nimmt sich bey dieser – im floriden Style bearbeiteten – Fantasiefuge, wie ich meynte, am beßten aus.
Auch Händel der unerreichbare Baumeister, hat sich auf dem Orgelpunkte seiner Fuge mit einem minder kunstreichen Aufbau begnüget.“
Schließlich legt er noch einige Briefe, die seine Redlichkeit bestätigen, und etwas Geld wegen etwaiger Auslagen Schumanns bei. Dessen Antwortbrief ist leider verschollen, aber in seinem „Briefverzeichnis“[41], einem ursprünglich als Portobuch angelegtem Verzeichnis, in dem Schumann stichwortartig den Inhalt eines großen Teils der von ihm seit 1834 abgesandten Briefe festhielt, findet sich eine kurze Inhaltsangabe, datiert 20. März 1838:
„Ihm die Quittung üb 10 Fl. ConventionsMünze an David[42] geschickt, sammt seinen Briefen – sodann Impromtus [op. 5] u. Abschrift einer Fuge von Bach.“
Die Reaktion ist eindeutig, trotz all seiner theoretischen Gleichstellungen Händels und Bachs ist letzterer für Schumann nach wie vor das Maß aller Dinge. Interessanter als dies aber ist, daß Schumann auch sein eigenes Opus 5, die Impromptus über ein Thema Clara Wiecks als Muster beigelegt hat, denn diese stellen seinen bis dahin engagiertesten Versuch dar, Fugentechnik in moderne Form zu überführen, wobei im Finale das dem ganzen Stück als Motto vorangestellte und durchweg präsente Baßthema fugenmäßig enggeführt wird.
Abbildung 1: R. Schumann, IMPROMTUS [sic!] sur une Romance de Clara Wieck op. 5, Erste Fassung, Leipzig, Hofmeister, August 1833, Nr. 12, S. 16.
Mehrfach wurden bereits Rezeptionsdefizite angesprochen, die Schumann bis in die 1840er Jahre hinein zu schaffen machten. Mit der Übersiedelung nach Dresden und der Gründung eines eigenen, zeitweise 90 Mitglieder starken Chorvereins erhält Schumann erstmals ein Podium, um diese aufzulösen. Minutiös hält er in einem dafür angelegten Notizbuch[43] seine Probenarbeit mit dem Gesangverein fest, so daß wir ablesen können, welche Werke wie oft gesungen wurden. Spitzenreiter ist hier Bach, von dem er die Johannes-Passion durchnahm, die Kantaten BWV 104 (Du Hirte Israel, höre), 105 (Herr, gehe nicht ins Gericht) und 106 (Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit) sowie die Motette „Lobet den Herrn, alle Heiden“ (BWV 230). Alle fünf Werke wurden nach gedrucktem Material aufgeführt, das Schumann speziell für den Chorverein angeschafft hat. Leider sind die gesamten Aufführungsmaterialien des Dresdener Chorvereins heute verschollen, einzig ein Auktionskatalog von 1960[44]gibt Aufschluß darüber, daß Schumann den um 1831 bei Trautwein in Berlin erschienenen, von Ludwig Hellwig arrangierten Klavierauszug der Johannes-Passion benutzt und mit Änderungen und Zusätzen versehen hat.
Von Händel probte Schumann in Dresden nur ein Werk, Jephtah, und auch hieraus nur Chöre, diese aber – mit Unterbrechungen – über extrem lange Zeit, nämlich von Juli 1848 bis Juni 1849[45], jedoch ohne öffentliche Aufführung, d.h. er benutzte das Werk vermutlich vornehmlich zur Chorschulung. Ein weiteres Händelsches Chorwerk lernte Schumann 1847 kennen, aber nicht schätzen[46]:
„Händel, l’Allegro, il Pensieroso etc
(Engl. Partitur)
Ein furchtbarer Zopf; unter seinen Oratorien kaum des Nennens werth. So flüchtiges und Unbedeutendes konnte Bach nie denken, geschweige aufschreiben.“
Im September 1847 beschäftigt ihn die (deutsche Übersetzung der) Händel-Biographie von Charles Burney[47], wobei ihn anscheinend in erster Linie dessen Oratorien interessierten, wie eine von Clara Schumann wohl in seinem Auftrag zusammengestellte Liste sämtlicher Händelscher Oratorien mit Angabe der Entstehungszeit belegt[48].
Mit dem Antritt seines ersten und einzigen öffentlichen Amtes, der Stelle eines Musikdirektors in Düsseldorf, kann Schumann die unübersehbaren Beschränkungen der Dresdener Aufführungsbedingungen sprengen. Endlich steht ihm ein wirklich großer Chor mit etwa 120 Mitgliedern und ein semiprofessionelles Orchester zur Verfügung[49]. Dies bedeutet vor allem, daß statt einzelner Chöre nunmehr Gesamtwerke geprobt und aufgeführt werden können. Für Händel kann Schumann in Düsseldorf zudem auf die Vorarbeit von Mendelssohn und Rietz zurückgreifen, die eine ausgesprochene Händeltradition initiiert und Aufführungsmaterialien hinterlassen haben. Viele dieser Stimmensätze sind heute noch vorhanden und zeigen Spuren von Mendelssohns und Rietz’ Hand, die ganze Instrumentalpartien hinzukomponiert haben[50].
Auch während der Düsseldorfer Zeit dokumentiert Schumann die Probenarbeit mit dem Gesangverein im schon in Dresden begonnenen Chornotizbuch[51]. Auf der vorletzten Seite (S. 111) dieses Buches findet sich, möglicherweise schon in Dresden in Hinblick auf die künftige Repertoireplanung für Düsseldorf geschrieben, eine Aufstellung „Zu Concertaufführungen“. Die Liste ist in zwei Rubriken unterteilt, links „Neuere Stücke“, rechts „Ältere Stücke“, in unserem Zusammenhang interessiert nur die rechte Spalte:
„Ältere Stücke
Aus Orpheus von Gluck.
H. Mollmesse v. J. S. Bach.
Der 117te Psalm v. Bach [i. e. die schon in Dresden geprobte Motette BWV 230]
Esther von Gluck Händel.
Messias von Händel
Josua –– ––
Judas Maccabäus ––
Dettinger Te deum ––
Messe von Fr. Schubert.“
Man sieht, jetzt endlich, in Düsseldorf, kann sich Händel gegenüber Bach deutlich durchsetzen. Allerdings muß berücksichtigt werden, daß dies nur eine gedachte, nicht in die Realität umgesetzte Planung ist. Wirklich realisiert hat Schumann von den geplanten Händel-Werken den Josua (schon in Schumanns erster Probe mit dem Düsseldorfer Gesangverein am 17. September 1850 gesungen, wiederaufgenommen ab August 1851 und aufgeführt am 20. November 1851[52]) und das Dettinger Tedeum (geprobt schon im Januar 1851, wiederaufgenommen ab 2. Dezember 1851, sechs Sätze daraus aufgeführt am 8. Januar 1852[53]; Schumann benutzte hierzu die heute noch vorhandenen, von Rietz und Mendelssohn selbst arrangierten handschriftlichen Stimmen des Düsseldorfer Musikvereins[54]). Hinzu kommen allerdings Proben (ab 20. Oktober 1850[55]) und Aufführung (21. Dezember[56]) zu dem von Schumann wenig später als „Ideal eines Chorwerkes“[57] apostrophierten OratoriumIsrael in Ägypten[58] sowie zum 100. Psalm (einstudiert ab 15. April 1851, aufgeführt 18. Mai 1851[59]). Beides Werke, die in der ursprünglichen Konzert-Planung noch nicht vorgesehen waren. Am 18. November 1852 schließlich wird unter Leitung seines Stellvertreters Julius Tausch das „Hallelujah“ aus dem Messias aufgeführt, wobei von Schumann eigentlich eine komplette Aufführung geplant war, denn er macht sich entsprechende Notizen zur Konzertplanung für „Winter 1852/53“ bzw. ganz konkret zum Benefizkonzert dieser Saison „Für die Armen:im März Palmsonntag: d. 20sten März [1853] (Messias)“[60], die aber wegen der Ende 1852 beginnenden Querelen mit einem Teil der Düsseldorfer Musiker zunächst scheiterte. Erst im Mai 1853, zum Eröffnungskonzert des 31. Niederrheinischen Musikfests in Düsseldorf, kann Schumann das Vorhaben realisieren. Im Anschluß an die Aufführung der zweiten Fassung seiner Symphonie op. 120 dirigiert er am 15. Mai 1853 den kompletten Messias in zeitüblicher Massenbesetzung[61], was Wolfgang Müller von Königswinter in seiner Rezension[62] ausdrücklich und emphatisch hervorheben wird: „Uebrigens muß man Händels Werke auch von so massenhaften Chören aufführen hören, wie ein rheinisches Musikfest sie versammelt. Da lausche Einer einmal dem Halleluja und fühle sich nicht gehoben von dieser Allgewalt eines harmonischen Aufbaues! Wie sich das übersteigt und übergipfelt, und doch stets im herrlichsten Ebenmaß bleibt! In der That liegt hier die Aehnlichkeit mit einem gothischen Dom nicht allzuweit. In solchen Momenten thut der Chor wahrhaftige Wunder. Welche Kraft, Fülle, Begeisterung! […] Was aber auch alle Mitwirkenden leisten mochten, größer erhob sich aus den Wogen seines Werkes das Bild des einzigen, unvergleichlichen mächtigen Meisters, dessen culturgeschichtliche Bedeutung mit derb Zeit in welcher er lebte schwer in Einklang zu bringen ist.“
Diesen fünf in Düsseldorf von Schumann zur Aufführung gebrachten Händelschen Werken stehen nur drei Werke Bachs gegenüber, darunter allerdings eines, für das er sich in ganz erheblichem Maße engagieren wird: Die Erstaufführung der Johannes-Passion BWV 245. Schon von Dresden aus hatte Schumann dem Direktorium des Düsseldorfer Musikvereins Programmvorschläge für die Konzertsaison 1850/51 geschickt[63]: „Mit dem Gesangverein zu studiren gedachte ich vielleicht die Johannespassion von Bach (die kleinere, aber nicht minder schöne), die 3 letzten Motetten von Mendelssohn und dann ‚Comala’ von Gade oder die Hermannsschlacht von Mangold […]“. Bereits Ende Januar 1851 beginnt Schumann mit den Proben zur Johannes-Passion, vorher nimmt er Kontakt mit Thomaskantor Moritz Hauptmann auf und bittet ihn um Ausleihe von Orchesterstimmen und aufführungspraktische Hinweise[64]. Zur Verstärkung des Tenors engagiert er Sänger aus den Nachbarorten Köln und Neuss und setzt bei den Chorälen zusätzlich 50 Knabenstimmen ein. Bei der Aufführung dürften demnach etwa 180–200 Choristen mitgewirkt haben[65]. Zusätzlich zu den von Hauptmann ausgeliehenen Orchesterstimmen schreibt er zu einzelnen Nummern Bläserarrangements, deren Entwürfe Gerd Nauhaus vor einigen Jahren im Skizzenmaterial des Oratoriums „Der Rose Pilgerfahrt“ entdeckt hat[66]. Zum Dirigat benutzte Schumann diesmal nicht den verschollenen, für die Dresdener Aufführung verwendeten Klavierauszug, sondern die ebenfalls 1831 bei Trautwein erschienene Partitur. Glücklicherweise hat sich diese als direktes Relikt des Aufführungsmaterials erhalten. Sie befindet sich heute, trotz des unübersehbaren Stempels „Musikverein Düsseldorf“ auf der Titelseite, im Schumann-Haus Zwickau[67]. Auf allen Seiten dieser Partitur finden sich Notizen Schumanns, die Aufschluß geben darüber, was übersprungen wurde, wie nicht mehr vorhandene Instrumente (bspw. Viola da Gamba) ersetzt wurden, welche Dynamikabstufungen er vornahm, wann Tempowechsel eingeleitet wurden etc. Auch zur Besetzung des Continuo finden sich verschiedentlich verbale Hinweise wie „Saitenquartett“. Die Arie Nr. 31, „Es ist vollbracht“, ursprünglich für Solo-Gambe und Continuo geschrieben, besetzte Schumann mit Bratsche als Soloinstrument und einer Begleitung von Bratschen und Cello. Die Noten zu letzterer stammen zwar von Schumanns Hand , gehen aber, wie der Briefwechsel mit Hauptmann zeigt, auf letzteren zurück[68], daher wohl auch das von Schumann zugefügte Fragezeichen zur Begleitung von Takt 3[69].
Abbildung 2: Grosse Passions-Musik nach dem Evangelium Johannis, Partitur, Berlin, Verlag der Buch- und Musikhandlung von T. Trautwein, 1831; S. 85, Handexemplar Schumanns.
Schumanns Düsseldorfer Händel-Aufführungen standen – wie gezeigt – in einer langen Tradition, sie beruhten auf Stimmenmaterial, das seine Vorgänger Mendelssohn und Rietz für den Düsseldorfer Musikverein angeschafft bzw. selbst arrangiert hatten. Dies bedeutet auch, daß Händels Oratorien für Düsseldorf nichts neues waren, sondern zum Repertoire gehörten. Deutlich anders war die Voraussetzung bei Schumanns Aufführung der Bachschen Johannes-Passion. Hier gab es nur wenig Vorläufer[70], insbesondere Bachs protestantische Kirchenmusik war in der zwar preußischen, doch überwiegend katholischen Residenzstadt Düsseldorf noch recht unbekannt. Für Schumann selbst war diese Aufführung allerdings von noch weitreichenderer Bedeutung. Ein Brief Schumanns an Wolfgang Müller von Königswinter zeigt, daß Schumann versuchte, mit dieser Aufführung Maßstäbe zu setzen[71]:
„Verehrter Dr. Müller,
Der Bedeutung des Werkes halber, das wir gestern aufgeführt, eines über hundert Jahre wohl vergrabenen Schatzes, wäre es wünschenswerth, das auch in weiteren Kreisen davon bekannt würde. Sie sagten mir früher einmal, dass Sie mit der Augsburger, auch mir der Kölnischen Zeitung in Verbindung stünden. Würden Sie nicht eine Anzeige für eines dieser Blätter übernehmen?
Die gestrige Aufführung war die erste größere, die überhaupt je von dem Werk stattfand. Die Matthäuspassion ist hier und da aufgeführt (in Berlin und Leipzig, auch Breslau glaub’ ich), die Johannispassion nur einigemale in Leipzig vom Thomanerchor und dann auch nicht vollständig und überhaupt nur in kleinerer Aufführung.
Dass die Aufmerksamkeit der deutschen Kunstwelt auf dieses, eins der tiefsinnigsten und vollendetsten Werke Bach’s hingelenkt würde, dazu möchte auch ich beitragen, und auch durch Ihre Hand. Es sollte mich freuen, wenn Sie meine Bitte erfüllten.
[…]“
Es geht Schumann demnach nicht nur darum, ein Gegenstück zur Erstaufführung der Matthäus-Passion im 19. Jahrhundert durch Mendelssohn zu schaffen, sondern um mehr. Es geht um die Säkularisierung der Bachschen Kirchenmusik, um die Aufhebung ihrer kirchenmusikalischen Bindung und Aufnahme in den Kanon weltlicher Konzertmusik. Schumanns Aufführung im April 1851 ist sicher nicht die erste Aufführung der Johannes-Passion im 19. Jahrhundert, aber es ist die erste, die mit dem Anspruch auftritt, das Werk als absolutes Kunstwerk allen Menschen zu öffnen, nicht nur dem protestantischen Kirchgänger, der er selber nie war.
[1] Robert Schumann. Tagebücher I. 1827–1838, hg. von Georg Eismann, Leipzig 21971 (im Folgenden zitiert als Tb I).
[2] Tb I, S. 389.
[3] Tb I, S. 230.
[4] „Die Musik“, 5. Jg., Heft 20, Berlin und Leipzig 1905/06, S. 296–313.
[5] S. 67–91.
[6] Archiv für Musikwissenchaft, 14. Jg., Trossingen 1957, S. 46–59.
[7] Hg. Michael Heinemann und Hand-Joachim Hinrichsen, Laaber 1997, S. 421–499.
[8] In: „55. Bachfest der Neuen Bachgesellschaft in Mainz. Johann Sebastian Bach und seine Ausstrahlung auf die nachfolgenden Jahrhunderte“, Mainz 1980, S. 132–144.
[9] Ebd., S. 139.
[10] „Georg Friedrich Händel – Ein Lebensinhalt“. Gedenkschrift für Bernd Baselt (1934–1993), Halle 1995 (= Schriften des Händel-Hauses in Halle, 11), S. 289–296.
[11] Autograph im Robert-Schumann-Haus Zwickau; Archiv-Nr.: 4871 VII B, 13 – A3.
[12] Vgl. Robert Schumann. Neue Ausgabe sämtlicher Werke, Bd. IV/3/1,1, Kritischer Bericht zu Schumanns Jugendkomposition Le psaume cent cinquantième, S. 125f.
[13] Einzig eine Symphonie in G-Dur seines jüngsten Sohnes Johann Christian gehörte zum Notenbestand der Zwickauer Stadtmusik und könnte noch zur Schumannzeit in Zwickau gespielt worden sein.
[14] Bischoff, a.a.O., S. 422.
[15] Robert Schumann, Selbstbiographische Notizen, hg. v. Martin Schoppe, [Zwickau], o. J., S. [7].
[16] Studien- und Skizzenbuch V, Universitäts- und Landesbibliothek Bonn, Signatur: Schumann 17, S. 1–7.
[17] Leo Liepmannssohn, Versteigerungs-Katalog 60, 21. /22. November 1930, S. 41. Lot. 272.
[18] Johann Nepomuk Hummel, Ausführliche theoretisch-practische Anweisung zum Piano-Forte-Spiel, Wien 1828, S. 374–377.
[19] Siehe Eduard Baumstark, Ant. Friedr. Justus Thibaut. Blätter der Erinnerung, Leipzig 1841, S. 173; vgl. auch Tb I, S. 228, 230 und 232
[20] Clara Schumann, Jugendbriefe von Robert Schumann, Leipzig 1886, S. 105–110, hier S. 105.
[21] Tb I, S. 230.
[22] Robert Schumann. Tagebücher, Bd. III, hg. von Gerd Nauhaus, Leipzig 1982, S. 689 und 702, Anmerkung 8 und 159 (im Folgenden zitiert als Tb III). Vgl. auch Schumanns Rezension dieses Konzerts (Gesammelte Schriften über Musik und Musiker von Robert Schumann, 2 Bde., 5. Auflage hg. v. Martin Kreisig, Leipzig 1914, Bd. I, S. 486; im Folgenden zitiert als GS I bzw. GS II):
[…]Die aufgeführten Musikwerke waren die „Jubelouvertüre“ von Weber, […] das Dettinger „Te Deum“ von Händel und ein „Lobgesang“ von Mendelssohn. Über die beiden ersten, weltbekannten Kompositionen brauchen wir nichts zu sagen.
[23] Tb III, S. 727, Anmerkung 367.
[24] Siehe die Liste der von Schumann während seiner Leipziger Zeit rezensierten und demnach im Konzert gehörten Werke Händels in GS II, S. 490–491.
[25] GS II, S. 208.
[26] GS I, S. 50.
[27] GS I, S. 490.
[28] GS I, S. 119.
[29] GS I, S. 245–247.
[30] GS I, S. 377.
[31] Autograph im Robert-Schumann-Haus Zwickau; Archiv-Nr.: 4871 / VII C, 8 – A3, S. 12.
[32] GS I, S. 18.
[33] GS I, S. 114.
[34] GS II, S. 53–54.
[35] GS I, S. 252.
[36] GS I, S. 314.
[37] GS I, S. 353.
[38] Wobei zu beachten ist, daß Schumann 1838 noch keine Kompositionsschüler hatte. Bei seinen eigenen Fugenstudien Mitte der 1830er Jahre orientierte er sich an Friedrich Wilhelm Marpurgs Abhandlung von der Fuge nach den Grundsätzen und Exempeln der besten deutschen und ausländischen Meistern, Leipzig 1806 (Schumanns Handexemplar, ohne Notenbeispiele, befindet sich im Robert-Schumann-Haus Zwickau; Archiv-Nr.: 203–C1/A4). Für Karl Ritter, seinen Kompositionsschüler von 1847–49, fertigte er eine Kontrapunkt- und Fugenlehre (Autograph in Süddeutschem Privatbesitz) an, die sich weitgehend (und großenteils wörtlich) an der deutsch-französischen Ausgabe von Luigi Cherubinis Theorie des Contrapunktes und der Fuge, Leipzig und Paris [1835], orientiert (Schumanns Handexemplar dieser Ausgabe befindet sich heute in der Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz; Signatur: N. Mus. ms. 381). Eine komplette Edition beider Quellen wurde neuerdings vorgelegt von Hellmut Federhofer und Gerd Nauhaus, Studien zur Kontrapunktlehre, Mainz 2003 [Robert Schumann. Neue Ausgabe sämtlicher Werke, Serie VII, Werkgruppe 3, Bd. 5].
[39] GS I, S. 232; vgl. zu Ladurners Händelphantasie auch Encyclopädie der gesammten musikalischen Wissenschaften, oder Universal-Lexicon der Tonkunst, hg. v. Gustav Schilling, 4. Bd., Stuttgart 1837, Artikel Ladurner, S. 296–298, dort (S. 298) mit Zitat des zugrunde liegenden Themas von Händel.
[40] Briefautograph, Brixen, 28. Februar 1838, in: Kraków, Biblioteka Jagiello?ska, Korespondencja Schumanna, Bd. 6, Nr. 887.
[41] Robert-Schumann-Haus Zwickau; Archiv-Nr.: 4871 / VII C, 10 – A3. Eintrag autograph numeriert als: 318 b.
[42] Schumann hatte offenbar den von Ladurner empfangenen Betrag als Spende an den von Ferdinand David verwalteten Orchesterpensionsfond weiter geleitet.
[43] Chornotizbuch, Robert-Schumann-Haus Zwickau; Archiv-Nr.: 4871 / VII C, 6 – A3.
[44] Stargardt, Auktionskatalog 548, 17. Mai 1960, Los 549: „Handexemplar Robert Schumanns, mit einigen Zeichen, Änderungen und Zusätzen in Rot- und Bleistift von seiner Hand“.
[45] Chornotizbuch, a.a.O., S. 24–42.
[46] Unter der Rubrik Musikalische Studien / Jahr 1847 notiert im sog. Lektürebüchlein, vgl. Gerd Nauhaus, Schumanns ‚Lektürebüchlein’, in: Robert Schumann und die Dichter, hg. von Bernhard R. Appel und Inge Hermstrüwer, Düsseldorf 1991, S. 50–87, hier S. 82–83.
[47] Siehe Tb III, S. 438, Eintragung zum 3. September 1847: „»Händels Leben« v. Burney“; vgl. auch Lektürebüchlein, a.a.O., S. 70–71: „Händel’s Leben v. Burney (übers.[etzt])“.
[48] Lektürebüchlein, a.a.O., S. 84–85. Laut Anmerkung von Gerd Nauhaus (S. 87) handelt es sich hierbei um „eine genaue Kopie aus Burneys Händel-Biographie, S. XLIX f.“.
[49] Vgl. Matthias Wendt, Die originalen Besetzungsstärken der (vokal-)symphonischen Werke Schumanns, in: Robert Schumann. Philologische, analytische, sozial- und rezeptionsgeschichtliche Aspekte, hg. von Wolf Frobenius, Ingeborg Maaß, Markus Waldura und Tobias Widmaier, Saarbrücken 1998 (= Saarbrücker Studien zur Musikwissenschaft, Neue Folge, 8), S. 26–41.
[50] Schon Schumann selbst war dieser Sachverhalt bekannt, so daß man annehmen muß, daß die Düsseldorfer es als besondere Ehre ansahen, Handschriften von Mendelssohn und Rietz in ihren Beständen zu haben (vgl. Brief Robert Schumann an A. C. G. Vermeulen, Düsseldorf, 7. Juni 1852: „Was die Partituren der Händel’schen Oratorien betrifft, so besitzt die Bibliothek die Instrumentalzusätze, die theils von Mendelssohn, theils von F. [recte: J.] Rietz herrühren. Leider nur in den ausgeschriebenen Orchesterstimmen, nicht aber in vollständiger Partitur, – zu meinem eigenen Leidwesen. Die Instrumentation aber aus den einzelnen Stimmen sich zusammenzusetzen, möchte eine sehr mühselige Arbeit sein.“ (zitiert nach Fritz Noske, Schumann und die niederländische Gesellschaft zur Beförderung der Tonkunst, in: Robert Schumann. Aus Anlaß seines 100. Todestages hg. v. Hans-Joachim Moser und Eberhard Rebling, Leipzig 1956, S. 77–83, hier S. 79f.). Vgl. zum Gesamtbestand der Musikalien Susanne Cramer,Die Musikalien des Düsseldorfer Musikvereins (1801–1929). Katalog, Stuttgart und Weimar 1996. Dort auch Teil-Nachweis der Eintragungen von Mendelssohn, Rietz und Schumann im Stimmenmaterial. Schriftproben aus den Stimmenbeständen finden sich bei dies., Historisches Aufführungsmaterial: Quellentypische Merkmale am Beispiel des Notenbestandes des Düsseldorfer Musikvereins, in: Schumann-Forschungen, 6, hg. v. Ute Bär, Mainz 1997, S. 235–246. Vgl. zur Händelpflege in Düsseldorf Klaus Wolfgang Niemöller, Die Händelüberlieferung im historischen Notenarchiv des Musikvereins Düsseldorf. Zur Händelpflege des 19. Jahrhunderts im Umkreis von Mendelssohn und Schumann, in: Georg Friedrich Händel – Ein Lebensinhalt. Gedenkschrift für Bernd Baselt (1934–1993), Halle und Kassel 1995 (Schriften des Händel-Hauses in Halle, 11), S. 207–225; sowie ders., Die Händelpflege auf den Niederrheinischen Musikfesten, in: Händel-Jahrbuch, 44. Jg., Halle 1998, S. 89–99.
[51] A.a.O., S. 63 ff., S. 65 mit der Überschrift „Verein in Düsseldorf. / 1ste Versammlung / d. 17ten Sept. 1850.“
[52] Chornotizbuch, a.a.O., S. 65, 81–84.
[53] Ebd., S. 73, 85–87. Im sogenannten Düsseldorfer Merkbuch (Autograph im Robert-Schumann-Haus Zwickau; Archiv-Nr.: 4871 / VII C, 7 – A3), S. 27, notiert sich Schumann als Zeitdauer für die Aufführung: Te deum 34. [Minuten].
[54] Belegt durch das vom Posaunisten vermerkte Aufführungsdatum „D.dorf, d. 8/1 52“ in der Tenorposaunenstimme dieses Stimmensatzes.
[55] Chornotizbuch, a.a.O., S. 68.
[56] Ebd., S. 71.
[57] Robert Schumann an den Textdichter seines geplanten Oratoriums „Luther“ Richard Pohl, 14. Februar 1851, siehe Robert Schumann’s Leben. Aus seinen Briefen geschildert von Hermann Erler, Berlin 1887, Bd. 2, S. 135: „Gelegenheit zu Chören geben Sie mir, wo Sie können. Sie kennen wohl Händels Israel in Egypten; es gilt mir als das Ideal eines Chorwerks.
Eine so bedeutende Rolle wünschte ich auch im Luther zugetheilt.“
[58] Einer Notiz im Düsseldorfer Merkbuch, a.a.O., S. 4, ist zu entnehmen, daß Schumann offenbar plante, die 1846 in London erschienene Bearbeitung Mendelssohns anzuschaffen: An Härtels / [Wegen] Israel in E. v. Mendelssohn. Die Notiz ist undatiert und nicht als erledigt gekennzeichnet, eine direkt darunter stehende Notiz läßt sich auf den 16. Januar 1851 datieren, was bedeuten könnte, daß Schumann sich erst nach der Aufführung am 21. Dezember 1850 um die Mendelssohnsche Ausgabe bemüht hat. Im Briefwechsel mit Breitkopf&Härtel wird die Ausgabe nicht erwähnt, Schumann erhielt sie allerdings als Mitglied der Handel Society und bestätigt ihren Besitz in seinem – z. Z. nur abschriftlich zugänglichen – Musikalienkatalog (Robert-Schumann-Haus Zwickau, Archiv-Nr.: 5673 – A3), S. 2, in der Rubrik Kirchenmusik:
„Händel.
Sämmtliche Werke (Neue englische Ausgabe):
Der Messias (2 Bände)
Israel in Egypten.
[…]“.
[59] Chornotizbuch, a.a.O., S. 78–79.
[60] Düsseldorfer Merkbuch, a.a.O., S. 21 und 47.
[61] Laut den anonym von W. Hauchecorne herausgegebenen Blättern der Erinnerung an die fünfzigjährige Dauer der Niederrheinischen Musikfeste, Köln 1868, Anhang S. 32, wirkten am Musikfest insgesamt 490 Chorsänger und 160 Orchestermusiker mit. Es bleibt allerdings unklar, ob diese sämtlich auch am Eröffnungskonzert beteiligt waren.
[62] Allgemeine Zeitung, Augsburg, Nr. 145, 25. Mai 1853, S. 2306.
[63] Brief Robert Schumann an Joseph Euler (Vorsitzender des Verwaltungsausschusses des Allgemeinen Musikvereins Düsseldorf), Dresden, 6. August 1850, Brieforiginal im Heinrich-Heine-Institut Düsseldorf; Akzessions-Nr.: 49.3750.
[64] Vgl. Brief Robert Schumann an Moritz Hauptmann, Düsseldorf, 22. Februar 1851 (Robert Schumann’s Leben, a.a.O., S. 136–137, hier S. 136): […] „Ueberhäuft von Arbeiten, würde es mir ein großer Zeitgewinn sein, wenn ich mir die ausgeschriebenen Recitative irgendwie verschaffen könnte. Wenn ich nicht irre, besitzen Sie oder die Thomanerbibliothek die Orchesterstimmen, und es wäre nun meine Bitte, ob Sie uns dieselben nicht bis Mitte März leihen könnten. Singstimmen haben wir genug; sollten aber vielleicht in der Orchesterparthie, wie Sie sie aufführen, Abweichungen von der Partitur sein, so würde ich Sie ersuchen, mir auch ein Exemplar der Chorstimmen beizulegen. […]“
[65] Vgl. Wendt, a.a.O., S. 30.
[66] Gerd Nauhaus, ‚Der Rose Pilgerfahrt’ op. 112: Schumanns Abschied vom Oratorium, in: Schumann Forschungen 3: Schumann in Düsseldorf. Werke – Texte – Interpretationen, hg. v. Bernhard R. Appel, Mainz etc. 1993, S. 179–199, hier S. 197.
[67] Archiv-Nr.: 2382 – D1/A4.
[68] Brief Moritz Hauptmann an Robert Schumann, Leipzig, 23. Februar 1851, Kraków, Biblioteka Jagiello?ska, Korespondencja Schumanna, Bd. 26/1, Nr. 4137: “[…] Die Viol da gamba in No 31. klingt sehr schön für das englische Horn. Hier sind auch zum Baß noch einige Stimmen in die Violen u das erste Violoncell gesetzt. Das Clavier würde sich zur ausfüllenden Harmonie hier nicht so gut ausnehmen. […]”
[69] Der Düsseldorfer Komponist Oskar Gottlieb Blarr hat zum Düsseldorfer Schumannfest 2000 den gelungenen Versuch gewagt, die Schumannsche Aufführung an Hand dieses überlieferten Materials zu rekonstruieren.
[70] Einsamer Vorläufer ist hier Ferdinand Hillers Aufführung der Matthäus-Passion am 24. März 1850 und vereinzelte Aufführungen instrumentaler und vokaler Bachwerke unter Rietz und Hiller 1841–1843 und 1848–1849, vgl. Rainer Großimlinghaus, Aus Liebe zur Musik. „Zwei Jahrhunderte Musikleben in Düsseldorf“, Düsseldorf 1989.
[71] Brief Robert Schumann an Wolfgang Müller von Königswinter, Düsseldorf, 14. April 1851, zitiert nach Paul Luchtenberg, Wolfgang Müler von Königswinter, Köln 1959, Bd. I, S. 269.