Klavierwerke 6

Klavierwerke 6 in zwei Teilbänden (Teilband 1: Noten; Teilband 2: Kritischer Bericht)


Waldscenen op. 82, Titelseite der Originalausgabe; Handexemplar Schumanns; D-Zsch; Archiv-Nr.: 4501,14–D1/A4

Band 6: Vier Fugen op. 72; Vier Märsche op. 76; Waldscenen op. 82; herausgegeben von Timo Evers; Bunte Blätter op. 99; herausgegeben von Michael Beiche; Drei Fantasiestücke op. 111; Drei Clavier-Sonaten für die Jugend op. 118; herausgegeben von Timo Evers; Albumblätter op. 124; herausgegeben von Michael Beiche; Sieben Clavierstücke in Fughettenform op. 126; Gesänge der Frühe op. 133; Thema mit Variationen Anhang F39; herausgegeben von Timo Evers
In dem Band sind zehn Werke vereint, die in mehrfacher Hinsicht ein breites Spektrum der Kompositionen Robert Schumanns für Klavier zu zwei Händen bilden. Zum einen sind es Klavierwerke ganz verschiedener Gattungen mit teilweise kulturpolitisch bzw. pädagogisch motivierten Aufführungsintentionen und Rezeptionskontexten; zum anderen stammen die frühesten Stücke dieses Bandes in ihren frühesten Versionen – die zunächst noch nicht als solche bezeichneten Albumblätter op. 124/1, 3, 12 und 15 – aus den Jahren 1832/1833, das zu Lebzeiten des Komponisten nicht publizierte Klavierwerk, das Thema mit Variationen Es-Dur Anhang F39, wurde dagegen erst Ende Februar 1854 niedergeschrieben. Damit repräsentieren die hier in historisch-kritischer Edition vorgelegten Klavierwerke nahezu den gesamten Zeitraum, in welchem Schumann – nach den Jugendjahren der dichterischen und kompositorischen Orientierung und vor seiner Einweisung in die privat betriebene Anstalt in Endenich im März 1854 – in professioneller Weise Kompositionen schuf und veröffentlichte. Deutlich wird auch, daß es Kompositionen sind, die mit den Hauptwirkungsorten Robert Schumanns verbunden sind, nämlich – neben der recht kurzen, jedoch kompositorisch sehr fruchtbaren Schaffensepisode in Wien – vor allem Leipzig, Dresden und Düsseldorf.
In Leipzig entstanden zunächst 1832/1833 die bereits genannten Stücke der Albumblätter, op. 124/1, 3, 12 und 15, gefolgt von weiteren einzelnen Stücken der Jahre 1834/1835 bis 1843, die später nicht nur in op. 124, sondern auch in die Bunten Blätter op. 99 aufgenommen wurden (op. 99/4–13 und op. 124/2, 4–13, 16–19). Diese Stücke hatten allesamt zunächst ganz unterschiedliche Entstehungskontexte und wurden von Schumann offensichtlich zunächst sehr sorgsam in der Schreibtischschublade zur späteren Veröffentlichung aufbewahrt. Es handelt sich um so unterschiedliche Stücke wie Leides Ahnung op. 124/2, das zunächst ohne diesen Titel zu den Etüden in Form freier Variationen über ein Thema von Beethoven Anhang F25 gehörte, oder um das Scherzo op. 99/13, das zunächst für die 1841 skizzierte, jedoch nie fertig ausgeführte Symphonie in c-Moll Anhang A6 vorgesehen war. Die Drei Stücklein op. 99/1–3 und wohl op. 124/14 stammen dagegen aus der Zeit von Schumanns Aufenthalt in Wien, der von Anfang Oktober 1838 bis Anfang April 1839 währte.
Nachdem Schumann sich seit 1840 vermehrt der Komposition anderer Gattungen gewidmet hatte – 1840 entstand zunächst ein Großteil seines Liedschaffens, 1841 ein bedeutender Teil seines symphonischen Œuvre (opp. 38, 52, 54 [1. Satz, 1. Fassung], 120 [1. Fassung]), gefolgt von Jahren, die vornehmlich der Komposition zweier oratorischer Großwerke (op. 50, einzelnes aus WoO 3) und solchen für kammermusikalische Besetzungen (opp. 41, 44, 46, 47, 88) vorbehalten waren – wandte er sich nach dem soeben vollzogenen Ortswechsel von Leipzig nach Dresdem erstmals wieder einem Klavierwerk größerer Dimension zu: Gemeinsam mit Clara studierte er zu Beginn des Jahres 1845 wieder derart intensiv Kontrapunkt und Fuge, daß von einer regelrechten Fugenpassion die Rede war. Erste Früchte waren die im Februar und März komponierten Vier Fugen op. 72 für Klavier, schließlich auch die Studien op. 56 und Skizzen op. 58, beide für den Pedalflügel, sowie die Sechs Fugen über den Namen BACH op. 60 für Orgel oder Pedalflügel. In diesen Zusammenhang fällt auch die Komposition des im Manuskript mit (1845) überschriebenen Canon op. 124/20.
Hatte Schumann mit op. 72 erstmals einen Zyklus komponiert, der genuin aus Charakterfugen besteht und die Gattungsbezeichnung Fuge auch im Titel trägt, so vergingen abermals einige Jahre, bevor er von Ende August bis Ende September 1848 mit dem Album für die Jugend op. 68 ein weiteres Klavierwerk in Angriff nahm. Im gleichen Jahr folgte ein weiterer Zyklus leichter zugänglicher Charakterstücke, deren poetische Überschriften umso mehr einen Naturbezug – und man darf mit aller gebotenen Vorsicht annehmen – auch einen gesellschaftlich-politischen aufweisen: Die Waldscenen op. 82 komponierte Schumann in der kurzen Zeit zwischen dem 24. Dezember 1848 und dem 6. Januar 1849. Ein politischer Zug ist jedoch umso deutlicher den ziemlich genau ein halbes Jahr später komponierten Vier Märschen op. 76 zu eigen; innerhalb von nur fünf Tagen, zwischen dem 12. und 15./16. Juni 1849, komponierte Schumann dieses Klavierwerk und auch den ursprünglich wohl hierfür vorgesehenen Geschwindmarsch op. 99/14 in Reaktion auf die jüngsten politischen und kulturellen Ereignisse der gescheiterten Revolution von 1848/1849.
Damit sind bereits sämtliche Klavierwerke zu zwei Händen genannt, deren Entstehung in die Dresdener Schaffensjahre von Dezember 1845 bis Ende August 1850 fällt. An Stücken für Klavier zu vier Händen entstanden 1848 bzw. 1849 die seinerzeit sehr erfolgreichen Bilder aus Osten op. 66 sowie die Zwölf vierhändigen Klavierstücke op. 85. Die Dresdener Periode ist darüber hinaus vor allem durch die Komposition solcher Großwerke wie der 2. Symphonie C-Dur op. 61, der Konzertstücke opp. 86 und 92, weiterer Faust-Szenen WoO 3 und schließlich der großen Oper Genoveva op. 81 geprägt.
In Düsseldorf, wo Schumann mit seiner Familie am 1. September 1850 eingetroffen war, komponierte er mit den Drei Fantasiestücken op. 111 erst im August 1851 wieder ein neues Klavierwerk, offenbar auch, um ein seit längerer Zeit aufgeschobenes Versprechen gegenüber dem Leipziger Verlag C. F. Peters einzulösen und somit die Bemühungen dieses Verlages hinsichtlich der Drucklegung der kommerziell weniger erfolgreichen Oper Genoveva op. 81 zu honorieren. Mehr Beachtung schenkte Schumann Werken für Klavier solo zu zwei Händen erst wieder im Jahre 1853, in welchem nochmals eine Reihe seiner bedeutenden Großwerke entstand, darunter die Ouvertüre der Faust-Szenen WoO3, das Konzert-Allegro mit Introduktion für Klavier und Orchester op. 134, die Fantasie für Violine und Orchester op. 131 oder das Violinkonzert WoO 1. In diesem Jahr komponierte Schumann für Klavier zu zwei Händen zunächst zwischen dem 28. Mai und dem 9./10. Juni die Sieben Clavierstücke in Fughettenform op. 126, womit er nach op. 72 einen entsprechenden weiteren, schon im Titel genuin der Fugengattung vorbehaltenen Zyklus, jedoch von ganz anderen Dimensionen vorlegte. Unmittelbar im Anschluß daran arbeitete er zwischen dem 11. und 24. Juni an den Drei Clavier-Sonaten für die Jugend op. 118, von welchen jede einer seiner Töchter gewidmet ist. Letztmalig einen Beitrag zur Gattung des Charakterstückes für Klavier zu zwei Händen leistete Schumann schließlich zwischen dem 15. und 18. Oktober 1853, als er in nur vier Tagen die später Bettina von Arnim gewidmeten Gesänge der Frühe op. 133 komponierte. Entstanden in einer Zeit beflügelnder künstlerischer und freundschaftlicher Kontakte zu Joseph Joachim und Johannes Brahms bei gleichzeitig voranschreitender beruflicher Krise als Dirigent des Düsseldorfer Städtischen Musikvereins, hat Schumann mit diesem Zyklus ganz offensichtlich noch einmal neue Akzente gesetzt.
Nach der endgültigen Niederlegung seiner Arbeit als Städtischer Musikdirektor in Düsseldorf im November 1853 wandte Schumann sich zunächst zwei literarischen Projekten zu, zum einen der Herausgabe seiner im Folgejahr erschienenen Gesammelten Schriften, zum anderen dem nicht mehr vollendeten Dichtergarten, einer Anthologie von Aussprüchen in der Bibel sowie von bedeutenden Dichtern und Denkern von der Antike bis in die Gegenwart. Mit diesen Arbeiten beschäftigt, erfuhr Schumann im Februar 1854 seinen bis dato wohl schwersten gesundheitlichen Zusammenbruch, in dessen Folge er am Vormittag des 27. Februar in den Rhein sprang, jedoch gerettet werden konnte. In diesem Kontext arbeitete er an seiner letzten überlieferten Komposition für Klavier zu zwei Händen, dem Thema mit Variationen für das Pianoforte Anhang F39, Clara gewidmet. Wenige Tage nach Beendigung der Reinschrift wurde Schumann schließlich am 4. März 1854 nach Endenich in die private Anstalt des Dr. Franz Richarz gebracht, die er – von einigen Spaziergängen in die nähere Umgebung abgesehen – bis zu seinem Tod am 29. Juli 1856 nicht mehr verlassen sollte. Trotz seines sich in Endenich besonders seit Sommer 1855 verschlechternden Gesundheitszustandes fand Schumann immer wieder Gelegenheit, einige seiner bis dato noch nicht publizierten Werke Korrektur zu lesen und mit einigen Vertrauten, darunter nicht nur Clara Schumann und Johannes Brahms, sondern auch die Widmungsempfängerin der Gesänge der Frühe op. 133, Bettina von Arnim, über künstlerische Fragen zu korrespondieren. Darüber hinaus sind kompositorische Arbeiten belegt (Klavierbegleitungen Anhang O8 zu Niccolò Paganinis Ventiquattro Capricci per Violino Solo op. 1, die Endenicher Choralsätze Anhang R18 und später vernichtete Fugen-Kompositionen), die im Falle von Anhang O8 ebenso wie Schumanns Korrespondenz nahelegen, daß er von Endenich aus ununterbrochen bestrebt war, die Veröffentlichung eines Großteils seiner zurückgelassenen Werke voranzutreiben und somit weiterhin an dem musikalischen Diskurs teilzunehmen.
Im Vergleich zu der hier nur kurz angedeuteten Entstehungsgeschichte der im vorliegenden Band versammelten Klavierwerke Robert Schumanns zeichnet sich bezüglich ihrer Drucklegung ein recht facettenreiches Bild anderer Kontur. Hier ist zu unterscheiden zwischen solchen Klavierwerken, die er unmittelbar nach Komposition an einen Verlag zur Veröffentlichung schicke, und solchen, die er nach erfolgter Komposition längere Zeit liegen ließ, um deren endgültige Werkgestalt für den anstehenden Druck sorgfältig zu überdenken und darüber hinaus Überschneidungen zu vergleichbaren anderen jüngst erschienenen Klavierwerken zu vermeiden. In den meisten Fällen fällt die Publikation dieser Klavierwerke also in ganz andere Wirkungskontexte als ihre Komposition. Zur ersten Kategorie zählen allen voran die Vier Märsche op. 76, deren rasche Veröffentlichung Schumann aufgrund des politischen Tagesgeschehens derart zügig vorantrieb, wie es kaum von einem anderen seiner Werke bekannt ist. Auch im Falle der Drei Fantasiestücke op. 111 und der bei Schuberth & Co. in Hamburg, Leipzig und New York erschienenen Drei Clavier-Sonaten für die Jugend op. 118 war Schumann um eine rasch erfolgende Veröffentlichung bemüht, wenngleich eine solche sich aufgrund seiner Arbeitsbelastung und im Falle des op. 118 auch aufgrund des Verhaltens des Verlags verzögerte.
Zur zweiten Kategorie zählen dagegen die Vier Fugen op. 72, die Waldscenen op. 82, die Sieben Clavierstücke in Fughettenform op. 126, die Gesänge der Frühe op. 133 und besonders die Bunten Blätter op. 99 sowie die Albumblätter op. 124. Die Vier Fugen op. 72 wurden beispielsweise im Frühjahr 1845 komponiert, jedoch – abgesehen von der 1847 vorab in einem Vereinsalbum veröffentlichten f-Moll-Fuge – erst im September 1850 durch den Verlag Friedrich Whistling auf den Markt gebracht. Als Erklärung kann nicht nur Schumanns allzeit hohe Arbeitsbelastung angeführt werden, sondern mehr noch sein nicht erst für diese Zeit zu beobachtendes sorgfältiges Abwägen bezüglich der Publikation seiner Werke: Im Falle des op. 72 hatte er zunächst der Komposition und Publikation der ebenfalls 1845 entstandenen Studien op. 56, Skizzen op. 58 und Sechs Fugen über den Namen BACH op. 60 den Vorzug gegeben – allesamt Zyklen, die Stücke stark kontrapunktischen Einschlages enthalten; zeitnahe hierzu op. 72 zu publizieren, hätte sich offensichtlich negativ auf den Absatz und auf das Bild ausgewirkt, das Schumann von sich in der Öffentlichkeit vermittelte. Ebenfalls erst 1850 erfolgte die durch den erst jüngst gegründeten Leipziger Verlag Bartholf Senff bewerkstelligte Veröffentlichung der Waldscenen op. 82. Schumann bezeichnete dieses Opus in treffender Weise als ein lang und viel von mir gehegtes Stück.
Obwohl Schumann im Falle der Drei Fantasiestücke op. 111 um deren rasches Erscheinen bemüht war, auch um das gegenüber dem Verleger mehrfach gegebene Versprechen einzuhalten, verzögerte er deren Publikation um mehrere Monate, um op. 111 – wie er dem Verleger schrieb – nicht in allzu große Konkurrenz zu den im Dezember 1851 im kleinen Elberfelder Verlag F. W. Arnold erschienenen Bunten Blättern op. 99 zu setzen. Darüber hinaus kommt unter den Klavierwerken verzögerter Drucklegung sicher den Bunten Blättern op. 99 sowie den im Dezember 1853 ziemlich genau zwei Jahre später ebenfalls bei Arnold erschienenen Albumblättern op. 124 der größte Stellenwert zu, enthalten diese Sammlungen doch zum Großteil deutlich ältere, noch in Leipzig komponierte Stücke vornehmlich der 1830er Jahre, die Schumann zur Publikation endgültig erst in Düsseldorf auswählte und denen er offensichtlich erst hier den letzten Schliff gab.
Der Verlag Arnold war es auch, den Schumann mit der Veröffentlichung zweier seiner überhaupt letzten Klavierwerke, der Sieben Clavierstücke in Fughettenform op. 126 sowie der Gesänge der Frühe op. 133 betraute. Deren Publikation wurde bereits durch den gesundheitlichen Zusammenbruch des Komponisten verzögert, in dessen Folge Schumann die Clavierstücke op. 126 aufgrund ihres attestierten melancholischen Charakters vorerst zurückzog und stattdessen die Gesänge der Frühe unter dieser Opuszahl zu veröffentlichen bat – in der ungefähr 24 Jahre währenden Zeit Schumanns als Herausgeber seiner eigenen Werke ein einmaliger Fall. Trotz des teils aus fehlenden Fakten und dadurch begünstigt teils aus romantischer Fiktion resultierenden Dunkels der letzten Lebensjahre Schumanns scheint es aber doch auf Schumanns in Endenich fortgesetztes Korrekturlesen einerseits und andererseits auf das nicht nachlassende Bestreben des Verlegers zurückzuführen zu sein, daß diese Klavierwerke doch noch mit erheblicher zeitlicher Verzögerung 1854 bzw. 1855 erscheinen konnten.
Ein sich von der Veröffentlichung der anderen im vorliegenden Band versammelten Klavierwerke gänzlich unterscheidender Fall liegt in dem im Kontext der gesundheitlichen Krise im Februar 1854 entstandenen Thema mit Variationen Anhang F39 vor. Hier handelt es sich – das zeigen sowohl die autographe Reinschrift als auch die darauf Bezug nehmenden Briefe im Kontext der gesundheitlichen Katastrophe – um eine sehr persönliche Komposition wohl im Sinne einer intimen Botschaft des Komponisten an seine Frau. Daß dieses, offenbar letzte vollständig überlieferte Klavierwerk von Schumann jemals zur Publikation vorgesehen gewesen wäre, ist nicht dokumentiert. Clara Schumann hielt es denn auch zeitlebens zurück; sie gestattete lediglich Johannes Brahms, das Thema für seine eigenen Variationen für Klavier zu vier Händen op. 23 zu verwenden; kurz vor ihrem eigenen Lebensende begrüßte sie zudem die Veröffentlichung des Themas im Rahmen des 1893 erschienenen Supplement-Bandes der AGA. Erstmals vollständig, wenn auch in editorisch höchst fragwürdiger Gestalt, wurde das Thema mit Variationen Anhang F39 schließlich 1939 durch Karl Geiringer veröffentlicht (Hinrichsen Edition, Ltd., London, Nr. 70).
Alle im vorliegenden Band versammelten Werke sind nach der jeweiligen Originalausgabe ediert worden. Eine Ausnahme bildet das Thema mit Variationen Anhang F39, von welchem – neben einem fragmentarisch überlieferten Arbeitsmanuskript – lediglich Schumanns Reinschrift und eine hiervon abhängige, korrigierte Kopisten-Abschrift bekannt sind.